Autorin: Véronique Conrad

Fallkommentar  |  Autonomie und Fürsorge

Fallbeschreibung

Alexandra Leicht ist 35 Jahre alt und ist seit ihrem 11. Lebensjahr an einer sehr seltenen Muskelerkrankung, namens Bethlem Myopathie erkrankt. Bei dieser Krankheit ist die Mobilität durch den fortschreitenden Schwund der Muskulatur erheblich eingeschränkt, so dass sie auf ständige Hilfe im Alltag angewiesen ist. Alexandra Leicht lebte seit ihrer Geburt bei ihrer alleinerziehenden Mutter. Sie wurde aufgrund ihrer Erkrankung stets von ihrer Mutter sehr verwöhnt, so dass Alexandra Leicht immer mehr die Entscheidungsrolle einnahm und den Tag auf ihre Weise strukturierte. So bestimmte sie z.B. zu welcher Zeit gegessen oder wann die tägliche Körperpflege durchgeführt werden sollte. Es fehlten dadurch klare Strukturen bezüglich des Tagesablaufes, es gab demnach auch keine festen Essenszeiten. Die Mutter ging in ihrer Rolle auf und erfüllte ihr jeden Wunsch.

Vor zwei Monaten erlitt Frau Leichts Mutter einen Schlaganfall und ist nun aufgrund einer einseitigen Hemiparese selbst gesundheitlich eingeschränkt. Sie kann in Zukunft die Pflege ihrer Tochter nicht mehr übernehmen. Nach langer und reiflicher Überlegung zog Alexandra Leicht in ein Wohnheim für Menschen mit einer körperlichen Behinderung. Von ihr wird erwartet, dass sie sich nach der Tagesstruktur, insbesondere auch der festgelegten gemeinsamen Essenszeiten dieser Institution richtet. So gibt es jeden Tag um 8:00 Uhr Frühstück, um 12:30 Uhr Mittagessen und um 17:30 Uhr nehmen die Bewohner gemeinsam ihr Abendessen ein. Frau Leicht hat jedoch zunehmend Probleme sich an die Essensrituale der Einrichtung anzupassen. Aufgrund dessen verweigert sie immer häufiger das gemeinsame Essen, da sie zu diesen festen Zeiten nicht essen möchte. Den Betreuern gegenüber äußert Alexand-ra Leicht jedoch, dass sie gerne etwas essen würde, nur nicht zu diesen Zeiten, da sie so früh noch keinen Hunger verspüre. Leider kann das Essen danach nicht mehr für sie aufgehoben werden, da der Essenswagen von der externen Küche circa eine Stunde nach der Essenssitzung abgeholt werden muss. So kam es schon öfter vor, dass Frau Leicht nur ein Essen am Tag zu sich nahm, was zur Folge hatte, dass sie immer mehr an Gewicht verlor. Durch die Gewichtsabnahme wird sie zunehmend schwächer und die noch vorhandenen Kräfte lassen weiter nach, was ihr Leben mit einer Muskelerkrankung erheblich erschwert. Sie ist demnach mehr auf Hilfe von Seiten der Einrichtung angewiesen. Die Betreuer machen sich große Sorgen um Ale-xandra Leicht und dachten zunächst, dass die Problematik nur in der Eingewöhnungsphase auftritt, in der sie noch sehr unter der Trennung von ihrer Mutter litt. Auch nach fast zwei Monaten in der Wohngruppe besserte sich ihr Essensverhalten nicht. Aufgrund dessen versuchten die Betreuer Frau Leicht häufiger mit etwas Druck zu überreden an dem gemeinschaftlichen Essen teilzunehmen und setzten sie meist auch gegen ihren Willen mit an den Tisch, mit der Hoffnung, dass sie etwas essen würde. Diese Maßnahme brachte bislang nicht den gewünschten Erfolg.

Zu dieser Falldarstellung stellen sich einige ethische Fragen. Sollten die Betreuer weiterhin auf Alexandra Leicht Druck ausüben und sie zwingen an den gemeinschaftlichen Essenszeiten teilzunehmen, damit sie wenigstens eine Kleinigkeit isst und nicht weiter abnimmt? Ist es auch zulässig oder rechtens, Frau Leicht nach der regulären Essenszeit kein Essen mehr zu geben? Sollten sich die Betreuer nach dem richten, was Alexandra Leicht möchte und dadurch längere und aufwendigere Arbeitszeiten in Kauf nehmen, damit das Wohl der Bewohnerin nicht gefährdet ist? Oder sollte Frau Leicht sich fügen und den Essensritualen folgen, damit das Personal entlastet wird?

Handlungsoptionen

  • Könnte also durch eine flexiblere Essenszeit (Gleitzeit) die Autonomie und Selbstbestimmung von Alexandra Leicht und allen anderen Bewohnern gewährleistet werden?
  • Oder sollten die Betreuer weiterhin einen leichten Druck auf Frau Leicht ausüben, damit sie am Alltag der Wohngruppe, vor allem aber bei den Mahlzeiten teilnimmt, um dadurch zu verhindern, dass sie weiterhin an Gewicht verliert und sie hilfebedürftiger wird.
  • Oder sollte dafür gesorgt werden, dass Alexandra Leicht die Möglichkeit erhält ihre Mahlzeiten auch später einzunehmen?

Ethische Prüfung

Allgemein muss festgehalten werden, dass Alexandra Leicht die Fähigkeit besitzt frei zu entscheiden, was sie möchte und was sie nicht möchte. Sie darf also im Sinne der „voluntaristischen Willensfreiheit“ (Forschner 1989, 72-75) Zustimmung oder aber auch Ablehnung frei äußern. Diese Willensfreiheit sollte also auch von den Betreuern des Wohnheimes akzeptiert und anerkannt werden. Denn Frau Leicht äußerte mehrfach gegenüber ihren vertrauten Betreuern ihren Willen, dass sie nicht bei den festgelegten Essenszeiten essen möchte. Es sollte in erster Linie nicht gegen ihren Willen gehandelt werden, da auch ein Mensch mit einer Behinderung als autonome Person ein Recht auf Selbstbestimmung hat, unabhängig davon, ob die Person in einem Wohnheim lebt und auf Hilfe angewiesen ist.

Bei dieser ethischen Diskussion geht es aber nicht alleine um die Autonomie von Alexandra Leicht, sondern auch um die Fürsorgepflicht der Betreuer gegenüber Frau Leicht. So könnten die Entscheidungen bzw. Handlungen von Frau Leicht von den Betreuern evtl. als selbstgefährdend angesehen oder aufgefasst werden. Das bedeutet, dass sie durch die Essensverweigerung ihrem eigenen Körper schaden könnte, denn durch die Gewichtsabnahme lassen die Kräfte von Alexandra Leicht nach und ihr geht es zusehends schlechter. Bei fast allen Aktivitäten des alltäglichen Lebens ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, und ihre Muskelerkrankung schreitet deshalb schneller fort. Dadurch könnten also die Handlungen derjenigen Mitarbeiter der Wohneinrichtung begründet werden, welche mit etwas Druck auf Frau Leicht einwirken wollen, um ihr Wohl nicht zu gefährden. Sie möchten fürsorglich handeln, da durch die Essensverweigerung der Gesundheitszustand von Alexandra Leicht schlechter wird. Die Betreuer handeln in einigen Situationen eher paternalistisch und nehmen die Entscheidungsrolle von Alexandra Leicht aufgrund ihrer Fachkompetenz als die ihre an. So wurde sie schon des Öfteren gegen ihren Willen an den Essenstisch gesetzt und zum Essen aufgefordert. Folglich sind sie der Meinung, dass ihr Verhalten Druck auf Frau Leicht auszuüben gut und von Nöten sei. Eine paternalisti-sche Fürsorgepflicht besteht für die Betreuer nur, wenn auch wirklich eine Gefährdung für Alexandra Leicht besteht. Jedoch stellt die Entscheidung von Frau Leicht nicht an den Essensrunden teilzunehmen, keineswegs eine lebensbedrohliche Situation dar. Man könnte hier also von einer „Unterweisung“ (Lob-Hüdepohl 2007, 143) sprechen, wenn die Betreuer versuchen sie zu einer Handlung anzuleiten, welche ihrer Meinung nach gesundheitsbewusster, angebrachter und vernünftiger wäre. Hierzu stellt sich ebenso die Frage, warum Frau Leicht nicht alleine entscheiden können sollte, was für sie gut ist und was nicht, und warum sie nicht so handeln sollte wie sie derzeit möchte.

Alexandra Leichts Handlungsfreiheit wird zum einen durch die Form des Nichtkönnens als auch die Form des Nichtkönnens plus Müssens eingeschränkt. Sie kann also nicht das machen, was sie will, und sie muss das machen, was sie nicht möchte. Allerdings ist auch klar, dass die Handlungsfreiheit der Bewohner in einem Wohn-heim nicht immer und nicht im vollen Umfang gewährleistet werden kann, so dass auch Frau Leicht sich in einigen Dingen und in manchen Lebensphasen an die Einrichtung anpassen muss. Denn eine absolute Handlungsfreiheit ist nie erreichbar, da wir alle an bestimmte Regeln und Normen gebunden sind. Frau Leicht besitzt also neben ihrem Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung auch noch Pflichten gegenüber den anderen Wohnheimbewohnern und den Mitarbeitern. Des Weiteren sollten Frau Leichts freie Willensäußerungen von den Betreuern gehört werden, um entsprechend reagieren zu können. Allerding sollten die Wohnheimmitarbeiter für alle Bewohner so handeln, dass die Autonomie und Selbstbestimmung aller gewährleistet werden kann. Die Betreuer sollten also versuchen advokatorisch zu handeln bzw. zu agieren.

Ein weiteres Kriterium ist, dass Frau Leicht selbst ihr Handeln auch verantworten können muss. Sie muss demnach auch die Fähigkeit besitzen, eine eigene Entscheidung treffen zu können, um Verantwortung tragen zu können (vgl. Tugend-hat/López/Vicuna 2000, 151). Frau Leicht muss verstehen können, dass sie bei Essensverweigerung auch die Verantwortung tragen muss und durch die zunehmende Schwäche auf Dauer auf mehr Hilfe angewiesen sein wird. Frau Leicht besitzt auf-grund ihrer Volljährigkeit außerdem das moralische Recht, „sich selbst zu kontrollieren und für sich selbst zu sorgen […]“ (vgl. ebd., 152).

Durch eine flexiblere Essenszeit (Gleitzeit) könnten also die Bewohner entscheiden, wann sie essen möchten, d.h. sie könnten dann z.B. zwischen acht und zehn Uhr Frühstück, zwischen 12 und 14 Uhr ihr Mittagessen und zwischen 17 und 19 Uhr ihr Abendessen einnehmen. Sie sind dann nicht mehr so sehr an eine feste Essenszeit gebunden und haben eine Wahlmöglichkeit im Sinne der „negativen Freiheitstheo-rie“( Leupold 2008, 80). Denn der erste Schritt in Richtung Autonomie ist bereits der Schritt eine Wahlmöglichkeit angeboten zu bekommen und auch zu besitzen. Durch diese flexible Auswahl kann Alexandra Leicht ihr Leben in einem Wohnheim selbstbestimmter organisieren und ist nun nicht mehr an die festen Essenszeiten der Institution gebunden.

Durch die Möglichkeit Frau Leichts Essen aufzuheben und zu einem späteren Zeitpunkt anzubieten, würde sie noch selbstbestimmter handeln können als durch die oben beschriebene Gleitzeit. Hier würde Frau Alexandra Leicht in dem Punkt der Essenseinteilung ganz frei entscheiden können, zu welcher Uhrzeit sie ihr Essen haben möchte. Dies wäre sehr gut für das selbstbestimmte und autonome Leben von Frau Leicht, jedoch würde diese Handlungsoption einen höheren Aufwand bei den Betreuern hervorrufen. Denn diese Handlungsoption müsste dann nicht nur für Frau Leicht gelten, sondern für alle Bewohner dieses Wohnheims. Um diese Option zu gewährleisten, ist jedoch die Betreuerzahl eines Wohnheims zu gering. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Im Modell der flexiblen Essenszeit entscheiden die Bewohner selbst, wann sie ihr Essen einnehmen möchten. Falls es zu unterschiedlichen Essenszeiten kommt, verbliebe für die Pflege weniger Zeit und die Betreuer müssten evtl. Überstunden ableisten. Durch das Personalproblem könnte evtl. diese Option nicht gewährleistet werden, da es sonst Schwierigkeiten mit dem Gesetz (Arbeitszeitregelung) geben würde. Jenes Angebot würde dann die Einstellung von mehr Personal erfordern. Das bedeutet, dass diese Handlungsoption zwar im Sinne von Alexandra Leichts Selbstbestimmung wäre, jedoch müssten die Betreuer mit aufwendigeren Arbeitszeiten rechnen, und auf die Institution kämen erhöhte Personalkosten zu.

Handlungsempfehlung

Wie schon in der ethischen Prüfung erwähnt, besitzt Frau Leicht als autonome Person das Recht selbstbestimmt zu leben. Allerdings spielt nicht allein die Autonomie eine Rolle, sondern im sozialprofessionellen Alltag auch die Fürsorgepflicht. Dennoch muss festgehalten werden, dass die Fürsorgepflicht in Frau Leichts Fall primär handlungsleitend sein muss. Da ihre Entscheidungen keineswegs lebensbedrohlich sind, müssen Zwangshandlungen unterbleiben. So sollte also ein Kompromiss gefunden werden, zwischen den Prinzipien der Autonomie und der Fürsorgepflicht. Durch die oben erwähnte Handlungsoption einer Gleitzeit könnte für Frau Leicht eine Wahlmöglichkeit angeboten werden. In dieser Zeit bestünde für sie Handlungs-freiheit. Selbstverständlich ist auch klar, dass Alexandra Leicht dadurch nicht völlig, unabhängig von den sozialen und organisatorischen Umständen entscheiden kann. Dennoch ist das Besitzen einer Wahlmöglichkeit ein erster Schritt in Richtung Autonomie. Dadurch würde das Personal nicht zu überstrapaziert werden und könnte sich ebenfalls nach den Gleitzeiten richten. Eine bessere Handlungsoption wäre die zuletzt genannte. Durch die ganz und gar flexible Einteilung der Essenszeiten könnte jeder Bewohner, auch Frau Leicht, frei entscheiden, wann er sein Essen einnehmen möchte. Dennoch wäre diese Handlungsoption verbunden mit mehr Aufwand des Personals, oder es müsste zusätzliches Personal herangezogen werden. So sollte also in Zukunft das Vertrauensverhältnis zwischen Frau Leicht und den Betreuern ge-stärkt werden und eventuell eine spezielle Gleitzeit der Essenseinteilung für alle Bewohner dieses Wohnheimes eingerichtet werden, damit alle Bewohner das Selbst-bestimmungsrecht in diesem Aspekt des täglichen Lebens wahrnehmen können.