Autorin: Julia Engels

Fallkommentar | Zwangsmaßnahmen bei Anorexie

Falldarstellung

Die 19jähirge Lisa M. leidet seit ihrem 14. Lebensjahr an einer diagnostizierten Magersucht und wiegt bei einer Körpergröße von 1,73m derzeit 46kg (BMI 15,4). Bei entsprechender Adaption des Körpers an die geringe Menge von Nahrungsaufnahme besteht derzeit keine akute Lebensgefahr, eine deutliche Gewichtszunahme und langfristige Stabilisierung des Allgemeinzustandes sind jedoch wünschenswert. Sie ist sich ihrer Krankheit bewusst und lebt aufgrund eines schwierigen Verhältnisses zu ihrer alleinerziehenden Mutter seit einem Jahr in einer Einrichtung für junge Frauen mit Essstörungen. Insgesamt zeigt sie ein alterstypisches Verhalten für einen Teenager, fällt jedoch in Stresssituationen in stärker kindlich-abhängiges Verhalten zurück. In den ersten Monaten hatten sich ihr Gewicht als auch ihr Essverhalten positiv entwickelt und stabilisiert. Sie zeigte ein gutes Maß an Compliance hinsichtlich der für sie angeratenen Therapiemaßnahmen. Auch psychotherapeutische Angebote nahm sie regelmäßig wahr. Seit ca. acht Wochen jedoch verschlechtert sich ihr Zustand. Zunehmend verweigert sie die Nahrungsaufnahme, erfindet Ausreden, um nicht an gemeinsamen Kochen und Einnehmen der Mahlzeiten teilzunehmen und nimmt auch keine psychotherapeutischen Therapieangebote mehr wahr. Ihr Gewicht hat sich in diesen acht Wochen auf die gefährlichen, aber noch nicht akut lebensgefährlichen 46kg reduziert. Auf Gesprächsangebote reagiert sie abweisend, zunehmend aggressiv abwehrend. Sie zieht sich immer mehr zurück und tauscht sich auch mit ihren MitbewohnerInnen immer weniger aus.

Die BetreuerInnen sind zunehmend besorgt um Lisa, suchen das Gespräch und versuchen sie durch gutes Zureden und Argumentieren dazu zu bewegen, weiter an ihren Therapien und am gemeinsamen Kochen und Essen teilzunehmen, jedoch ohne Erfolg. Sie suchen auch das Gespräch mit Lisas Mutter, diese jedoch gewinnt ebenso wenig Kontakt zu ihrer Tochter. BetreuerInnen und Mutter befürchten, dass sich Lisas Zustand in kurzer Zeit weiter dramatisieren könnte und ihr Untergewicht akut lebensbedrohlich werden könnte. Sie überlegen daher, sie auch gegen ihren Willen in eine Klinik zwangseinweisen zu lassen, um sie dort ggf. auch unter Zwang zu ihrem eigenen Schutz ernähren zu lassen.

Wäre eine solche Zwangseinweisung ethisch legitim? Können Dritte eine solch gravierende Entscheidung gegen den Willen und über den Kopf einer Patienten hin treffen? Welche Rolle spielt es dabei, dass alle nur „zu ihrem eigenen Wohle“ handeln wollen? Ab wann rechtfertigt eine Selbstgefährdung solch übergriffige Maßnahmen wie Zwangseinweisung und/oder Zwangsernährung? Welchen Unterschied würde es machen, wenn Lisa noch nicht volljährig wäre?

Wie sollen die BetreuerInnen sonst weitervorgehen? Zuschauen und abwarten?

Ethischer Problemaufriss

In den formulierten Fragen deuten sich bereits diejenigen Aspekte an, die aus ethischer Perspektive hier miteinander in Konflikt geraten. Auf der einen Seite ist Lisa eine junge, aber volljährige Frau, die im Sinne der Autonomie und Selbstbestimmung selbst und allein entscheiden darf, welche Behandlung sie annimmt und welche sie verweigert. Sollte sie einer bestimmten Behandlung zustimmen, ist weiterhin relevant, dass dies freiwillig und ohne äußeren Zwang geschieht. Grundsätzlich besteht keine Pflicht zur Vernunft, sondern vielmehr ein Recht auf Unvernunft.

Auf der anderen Seite ist Lisa krank. Ihr Verhalten ist aufgrund dieser Krankheit unvernünftig und sogar selbstgefährdend. Daher kann ein paternalistisches Eingreifen zu ihrem eigenen Schutz (Selbstschutz) gerechtfertigt sein, zum Beispiel in Form einer Zwangseinweisung und/oder Zwangsernährung. Allerdings gilt auch zu bedenken, dass der therapeutische Erfolg der Behandlung einer Anorexie-Patientin maßgeblich durch ein Vertrauensverhältnis erzielt werden kann, welches durch ein invasives paternalistisches Eingreifen seitens der BetreuerInnen gefährdert, gestört bzw. gar zerstört werden kann.

Handlungsoptionen

Den BetreuerInnen von Lisa stellen sich die folgenden Handlungsoptionen:
a. das Vertrauensverhältnis zu ihrer Patientin wahren und weiter verbal, sachlich und argumentativ auf sie einzuwirken versuchen;
b. das Vertrauensverhältnis zu ihrer Patientin zunächst wahren und weiter verbal, sachlich und argumentativ auf sie einzuwirken versuchen, dies jedoch verbunden mit der „Drohung“, dass bei mangelnder Compliance seitens Lisas eine Zwangseinweisung erfolgen müsse;
c. sie beziehen Lisas Mutter mit ein, holen deren Meinung ein, obwohl sie um das schwierige Verhältnis der beiden wissen;
d. Sie entscheiden sich paternalistisch zum Wohle von Lisa für eine Zwangseinweisung und veranlassen diese umgehend, ohne dies vorher noch einmal mit Lisa oder ihrer Mutter besprochen zu haben.

Diskussion der relevanten ethischen Aspekte

Lisa ist eine junge, aber volljährige Frau, die grundsätzlich ihre eigenen Entscheidungen treffen kann und die ein Recht darauf hat, dass diese von Anderen respektiert werden. Im Sinne der Autonomie und Selbstbestimmung hat sie das alleinige Recht zu entscheiden, ob sie Therapieangebote in Anspruch nimmt, und wenn ja, welche. Dieses Selbstbestimmungsrecht gilt selbstverständlich auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Eine Missachtung dieses Rechts auf Autonomie und der Zwang zu einer bestimmten Behandlung sind aus juristischer Perspektive als Körperverletzung zu bewerten. Die BetreuerInnen haben daher zunächst kein Recht, Lisa gegen ihren Willen zu einer bestimmten Therapie zu zwingen, geschweige denn sie gegen ihren Willen zwangseinweisen und/oder zwangsernähren zu lassen.

Allerdings gibt es autonomieeinschränkende Faktoren, im Sinne des Fürsorge-Prinzips, zum Beispiel wenn ein selbst- und/oder fremdgefährdendes Verhalten vorliegt. Eine Fremdgefährdung kann in Lisas Fall ausgeschlossen werden. Wie jedoch verhält es sich mit einer Selbstgefährdung? Lisas BMI ist zwar sehr niedrig, jedoch noch nicht akut lebensbedrohlich. Eine Zwangseinweisung gegen ihren ausdrücklichen Willen kann damit also nicht begründet werden. Jedoch ist zu bedenken, dass die BetreuerInnen begründeten Anlass sehen, davon auszugehen, dass sich ihr Zustand weiterhin kontinuierlich verschlechtern wird, wenn nicht rechtzeitig eingegriffen wird. Sie haben Sorge, dass ihr körperlicher Zustand sich so verschlechtern könnte, dass eine Zwangseinweisung und Zwangsernährung dann unumgänglich wird, um ihr Leben zu retten. Daher bemühen sie sich, möglichst früh aktiv zu werden, um den schlimmsten Fall zu verhindern. An dieser Stelle verkompliziert sich die Situation dahingehend, dass es sich bei dem zu vermeidendem Zustand um einen in der Zukunft liegenden Zustand handelt, der aktuell noch nicht vorliegt, jedoch möglicherweise oder sogar wahrscheinlich in absehbarer Zeit eintreten wird. Inwiefern also kann ein paternalistisches Verhalten seitens der BetreuerInnen gerechtfertigt sein, wenn es nicht auf einen bestehenden, sondern lediglich um einen möglichen oder wahrscheinlich eintretenden Zustand handelt?

Darüber hinaus kann Lisas Fähigkeit zur Autonomie und ihre Entscheidungsfähigkeit auch noch aus einem weiteren Grund, der spezifisch für ihr Krankheitsbild ist, in Zweifel gezogen werden. In Fällen von Anorexie-Erkrankungen werden häufig Zweifel an der Entscheidungskompetenz der PatientInnen geäußert, vor allem in Hinblick auf spezifische therapeutische Maßnahmen, da diese in der Regel auf Gewichtszunahme abzielen, welche die Patienten unter allen Umständen vermeiden wollen. Außerdem gibt es in der Literatur Anhaltspunkte dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen einem extrem niedrigen BMI und der Schwere des krankheitssymptomatischen Verhaltens gibt, was ein niedrigeres Maß an Compliance erklären könnte, aber auch Anfang eines Teufelskreises sein kann.

Dies ist das Kardinalsproblem dieser Erkrankung. Es kann also durchaus argumentiert werden, dass ihre Weigerung, weiter an den Therapieangeboten der Einrichtung teilzunehmen nicht Ausdruck ihrer freien Entscheidung ist, sondern vielmehr ein Symptom ihrer Erkrankung darstellt. Entsprechend kann eine Zwangsbehandlung nicht eine Missachtung ihres Rechts auf Autonomie bedeuten, insofern als Lisas Weigerung die Therapie fortzusetzen keine autonom getroffene Entscheidung ist. Vielmehr ist sie aufgrund ihrer Erkrankung diesbezüglich nicht in der Lage, eine autonome Entscheidung für sich selbst zu treffen. (Das bedeutet nicht, dass sie grundsätzlich nicht in der Lage ist, andere Entscheidungen autonom zu treffen.) Andererseits gilt eben, wie oben bereits bemerkt, das Selbstbestimmungsrecht ebenso für psychisch erkrankte Menschen und kann nicht ohne weiteres mit der Diagnose einer psychischen Störung ausgehebelt werden.
Auf der anderen Seite beschränkt sich die Ausübung der Autonomie und Selbstbestimmung nicht auf (allgemein als) vernünftige (anerkannte) Entscheidungen. Vielmehr besteht so etwas wie ein Recht auf Unvernunft, ein Recht, eine falsche Entscheidung zu treffen, was in diesem Fall ebenfalls geltend gemacht werden könnte. Auf ähnlicher argumentativer Ebene lässt sich der Aspekt der Selbstgefährdung in Frage stellen. Gilt der Respekt vor der Autonomie einer PatientIn tatsächlich, dann kann sie (die Automonie) keine solch gravierenden Einschränkungen erlauben. Stattdessen müsste auch eine irrationale Entscheidung respektiert werden und könnte keine paternalistischen Entscheidungen legitimieren. Hier ist jedoch gegen einzuwenden, dass der Respekt vor der Autonomie einer Person vor allem zunächst dazu verpflichtet, die Person in eine Lage (in einen Zustand) zu versetzen, in der (in dem) sie in der Lage ist, autonom zu entscheiden und zu handeln. In Lisas Fall kann argumentiert werden, dass sie eben aufgrund ihrer Erkrankung akut nicht in der Lage ist, autonom zu entscheiden, muss das erste Ziel der BetreuerInnen sein, ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit wiederherzustellen. Kann dies nur gelingen, in dem sie zur Therapie gezwungen wird, kann dies ein Argument für ein paternalistisches Eingreifen im Sinne des Respekts vor der Autonomie darstellen und muss mit dieser nicht notwendigerweise in Konflikt geraten. Auf diese Weise können Autonomie- und Fürsorgeprinzip ggf. in Einklang miteinander gebracht werden.

Ein weiterer Aspekt spielt jedoch noch eine weitaus größere Rolle. Vertrauen bildet einen wesentlichen Baustein im Verhältnis der BetreuerInnen zu Lisa und umgekehrt und stellt damit eine zentrale Voraussetzung für jedweden Therapieerfolg dar. Missachten die BetreuerInnen nun Lisas Entscheidungen, könnte dies das Vertrauensverhältnis gefährden, oder schlimmstenfalls sogar ganz zerstören. Im Sinne der Aufrechterhaltung eines gesunden Vertrauensverhältnis ist es daher notwendig, nicht über Lisas Kopf hinweg zu entscheiden, sondern sie in alle Überlegungen miteinzubeziehen, ihr alle Handlungsalternativen offen zu legen und gemeinsam mit ihr zu entscheiden. Dieser Prozess mag Zeit in Anspruch nehmen und Mühe kosten, ist jedoch für den Erhalt eines Vertrauensverhältnisses unabdingbar.

Bislang lag das Augenmerk im wesentlichen auf individualethischen Aspekten. Darüber hinaus können, im Sinne des Gerechtigkeitsprinzips auch noch sozialethische Aspekte eine Rolle spielen. Zum Beispiel könnten die BetreuerInnen so besorgt sie auch um Lisa sind, kritisieren, dass sie mit ihrem unkooperativen Verhalten viele Ressourcen (Zeit, Energie, Aufmerksamkeit etc.) auf sich bezöge, die somit anderen PatientInnen nicht mehr zur Verfügung stehen. Es könnte sogar so weit argumentiert werden, dass Lisa, provokativ formuliert, wenn sie doch eigentlich gar nicht an den Therapiemöglichkeiten der Einrichtung teilnehmen möchte, besser den Einrichtungsplatz für eine andere Person freimachen sollte, die diese Angebote dankbar annehmen würde und die u.U. auch schneller gesunden würde. Argumentationen dieser Art geraten jedoch schnell auf die schiefe Ebene. Ihr Gesundungsprozess liegt so wenig in Lisas Hand wie der anderer PatientInnen auch, ihr mangelndes Maß an Compliance und Kooperation kann vielmehr wie bereits angemerkt sogar als Symptom ihrer Krankheit selbst bewertet werden. Ihr „Schmarotzertum“ vorzuwerfen, wäre daher nicht nur äußerst destruktiv für den weiterem Verlauf ihrer Erkrankung und das Verhältnis zu ihren BetreuerInnen und der Einrichtung generell, sondern auch äußerst anmaßend.

Handlungsempfehlung

Nach Abwägung der ethischen Aspekte mag Lisas Situation zunächst noch komplizierter erscheinen als zu Beginn. Nichtsdestotrotz bringt die ethische Analyse wichtige Aspekte zu tage, die ohne keine Berücksichtigung erfahren hätten. Kein Prinzip, weder das der Autonomie noch das der Fürsorge, kann einfach und schematisch auf einen konkreten Fall angewendet werden und eine simple Handlungsempfehlung generieren. Vielmehr bleiben gewisse Spannungen in der Einschätzung dieses Falls notwendigerweise bestehen. Jedoch ist es von großer Wichtigkeit, dass jede konkrete Handlungsempfehlung, die gegeben wird, auf einem soliden argumentativen Begründungsfundament steht. Im Folgenden soll jedoch das Prinzip der Autonomie und vor allem das der Ermöglichung der Autonomie stark gemacht werden und dafür argumentiert werden, dass die BetreuerInnen zu diesen Zeitpunkt und mit Hinblick auf Lisas aktualen Zustand keine Zwangseinweisung und/oder Zwangsernährung veranlassen sollten. Sie sollten genauso wenig Lisa in Gesprächen damit drohen. Vielmehr wäre es wünschenswert, wenn die BetreuerInnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiterhin das vertrauensvolle Gespräch zu Lisa suchen, sich um ihre Aufmerksamkeit bemühen und ihr sachlich, aber unmissverständlich deutlich machen, worauf sie mit ihrem derzeitigen Verhalten zusteuert. Statt mit einer Zwangsbehandlung zu drohen, sollte das informative Gespräch im Vordergrund steht, das umfangreich und objektiv Informationen vermittelt, alle Konsequenzen möglicher Entscheidungen aufzeigt und so Lisa ermöglicht, eine autonome Entscheidung hinsichtlich ihrer eigenen Situation zu treffen, die sie eventuell allein ohne beratende und fürsorgliche Gespräche nicht treffen könnte.

Keinerlei Entscheidung sollte jedoch über ihren Kopf hinweg getroffen werden, da dies nicht nur das so immens wichtige Vertrauensverhältnis gefährden würde, sondern auch den Therapierfolg generell. Stattdessen sollte Lisa in alle Informations-, Abwägungs- und Entscheidungsprozesse zentral mit eingebunden werden. Drastischere paternalistische Maßnahmen wie Zwangsbehandlungen jeder Art können in Lisas derzeitiger Situation ethisch nicht gerechtfertigt werden. Auch wenn es ein hehres Ziel ist, das schlimmste verhindern zu wollen, legitimiert das kein paternalistisches Eingreifen, wenn die Situation (noch) nicht selbstgefährdend ist.
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