Fallvignette | Diagnosestellung "Asperger Syndrom"

Fallbeschreibung

Anna-Lena ist 12 Jahre alt. Seit vier Wochen besucht sie die Therapie eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten.

Die Eltern berichten in den Gesprächen mit dem Therapeuten, ihre Tochter sei bereits von der Erzieherin in der Kita und der Grundschullehrerin als extrem zurückgezogen beschrieben worden. Anna-Lena sei verträumt und oft mit eigenen Belangen und Gedanken beschäftigt, die Handlungsabläufe seien dementsprechend unkoordiniert. Auch die Eltern erleben ihre Tochter seit dem Kleinkindalter als zurückgezogen, ängstlich und schüchtern. Aufgrund ihrer guten Schulleistungen wechselte Anna-Lena nach der Grundschule auf das Gymnasium. Nach kurzer Zeit habe sie hier, den Eltern und der LehrerInnen zufolge, eine Außenseiterposition inne gehabt. Die Klassenlehrerin, die Anna-Lena seit der fünften Klasse bis heute unterrichtet, berichtete den Eltern, dass Anna-Lena lieber für sich arbeite und sich weder im Unterricht noch in der Pause gerne Gruppensituationen zuordne. Die Freizeit, so Anna-Lena heute selbst über sich, verbringe sie gerne für sich mit Lesen von Fachzeitschriften z.B. „Geo“, ca. einmal in der Woche treffe sie sich mit einer Freundin, die sie schon seit der Grundschule kennt. Der Versuch im letzten Jahr, so die Eltern, sie in einen Reitverein zu integrieren scheiterte, da Anna-Lena verängstigt auf andere Kinder reagierte und sich weigerte weiterhin am Reitunterricht teilzunehmen. Gruppenfahrten mit der Klasse oder Feiern lösen bei ihr große Ängste aus.

Seit einem halben Jahr hat sich die Situation in der Schule für Anna-Lena zusehends verschlechtert. Anna-Lena fällt den LehrerInnen durch vermehrt aggressives Verhalten und eine unangepasste Interaktion mit ihren MitschülerInnen auf. Sie verstehe oftmals Ansprachen der MitschülerInnen falsch und reagiere schon bei kleinen Irritationen aggressiv und frustriert, bis hin zu Weinkrämpfen. In der Klasse wird sie von den MitschülerInnen gehänselt (z.B.„Psycho“) und geärgert. Sie selbst möchte nicht mehr in die Schule gehen. Aufgrund des auffälligen Verhaltens in der Schule besuchte Anna-Lena auf Anraten der Schule vor fünf Monaten für den geplanten Zeitraum von drei Monaten zur Diagnostik eine psychiatrische Tagesklinik. In der Akte der zuständigen Therapeuten wird der Diagnoseverdacht „Asperger Syndrom“ geäußert, die entsprechenden Testbefunde (ADOS, MBAS) sind eindeutig.

Die Eltern von Anna-Lena lehnen die Bezeichnung „Krankheit“ und eine entsprechende Diagnose, insbesondere die des „Autismus“ ab. Aus ihrer Sicht ist ihre Tochter „besonders“ und hat einige soziale Probleme, die sie jedoch auch lernen kann, zu überwinden.

Auch aufgrund dessen äußern sie, haben sie kein Vertrauen in die Therapeuten der Tagesklinik, den Aufenthalt dort nach zwei Monaten abgebrochen und sich auf Anraten der zuständigen Ärzte und Therapeuten an einen ambulanten Therapeuten gewandt.

Für den verhaltenstherapeutisch orientierte Kinder- und Jugendpsychotherapeuten ist die Diagnose entscheidend für die Auswahl der Therapiemethode. So erfordere die Diagnose „Asperger Syndrom“ adäquates Verhalten einzuüben, während die Diagnose „Sozialphobie“ zu einer verhaltenstherapeutischen „Expositionsbehandlung“ führt. Nach einer erneuten Diagnostik sieht er den Verdacht eines „Asperger Syndroms“ als bestätigt. In einem Gespräch mit den Eltern lehnen diese die Diagnose weiterhin ab, lassen sich jedoch auf eine Therapie ein und stimmen zu, dass der Therapeut mit der Lehrerin Kontakt aufnimmt, um hier für Anna-Lena Verständnis und Unterstützung zu erhalten.

Für den Therapeuten ergeben sich für das Gespräch mit der Lehrerin und der weiteren Arbeit mit den Eltern mehrere Fragen, wie mit der Festlegung auf die Diagnose umzuge-hen ist:

  • Soll er mit den Eltern daraufhin arbeiten, dass die Diagnose auch der Lehrerin bekannt gemacht wird, damit sie Anna-Lenas Verhalten verstehen und einordnen kann? Zudem könne bei entsprechender Diagnose eine sonderpädagogische Unterstützung aus dem zur Schule gehörigen pädagogischen Zentrum hinzugezogen werden.
  • Andererseits weiß der Kinder-und Jugendpsychotherapeut aus seiner Praxiserfahrung, dass Diagnosen mit Stigmatisierung verbunden sein können. Sollte er die Diagnose der Lehrerin gegenüber verschweigen?
  • Und wie wirkt es sich auf Anna-Lena aus, die mit der öffentlich gemachten Diagnose umgehen muss?