Autor: Michael Leupold

Fallkommentar  |  Ethische Aspekte sozialprofessionellen Handelns mit suizidgefährdeten Menschen

Fallbeschreibung

Andrea Müller, 40 Jahre alt und an einer schizoaffektiven Psychose erkrankt, lebt seit über zehn Jahren in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft, die von dem Sozialarbeiter Dieter Meier betreut wird. Zusätzlich geht Andrea Müller regelmäßig zu ihrem ambulanten Psychiater Dr. Arnold Kastner und besucht seit dem Umzug in die Wohngemeinschaft von Montag bis Freitag eine Tagesstätte für Menschen mit einer psychischen Behinderung. Andrea Müller war in ihrer Jugendzeit mehrmals in der Psychiatrie und befand sich dort auch zeitweise gegen ihren Willen per Gerichtsbeschluss. Zudem hat sie Dieter Meier erzählt, dass sie bereits mehrere Suizidversuche unternommen hat. Der Bruder von Andrea Müller hat sich vor 15 Jahren das Leben genommen. Seit Andrea Müller in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft lebt, hatte sie keine psychischen Krisen und benötigte daher auch keine stationäre psychiatrische Behandlung mehr. In den regelmäßigen Gesprächen mit Dieter Meier wurden u.a. immer wieder die Sorgen und Bedenken von Andrea Müller aufgegriffen, ob sie bei einer erneuten suizidalen Krise „sofort weggebracht” und gegen ihren Willen behandelt würde.
Seit drei Monaten befindet sich Andrea Müller nun im Anschluss an eine mehrmonatige manische Phase in einer deutlichen depressiven Verfassung. Aufgrund ihrer guten Mitarbeit in Kombination mit der von ihr ausdrücklich gewünschten engen Kooperation zwischen Dieter Meier, Dr. Arnold Kastner sowie der Gruppenleiterin Ursula Fuchs in der Tagesstätte konnte die manische Phase ambulant begleitet werden. Bestärkt durch diese neue Erfahrung der ambulanten Krisenbegleitung berichtet Andrea Müller in den Einzelgesprächen nun sehr offen Dieter Meier gegenüber, dass sie gegenwärtig keine Freude mehr erlebe, sehr müde sei und deutlich früher zum Schlafen ins Bett müsse als sonst. Außerdem habe sie täglich Gedanken, nicht mehr leben zu wollen, die mit Erlebnissen von Sinnlosigkeit einhergingen. Sie erlebe bei den täglichen Erinnerungen an frühere Suizidversuche und an den Suizid ihres Bruders aber keinen Handlungsdruck. Sie habe bislang auch keinerlei Vorbereitungen getroffen, um einen Suizid zu begehen. Die suizidalen Ideen träten vor allem am Abend auf und gingen nach kurzer Zeit wieder weg.
Aufgrund der langen Dauer der depressiven Phase äußert Andrea Müller nun auch, dass sie bei sich vereinzelt feststelle, die Hoffnung auf Besserung langsam zu verlieren. In der Tagesstätte ist sie seitdem deutlich in ihrer Leistungsfähigkeit gemindert und dementsprechend auch in ihrem Selbstwertgefühl. Andrea Müller betont bislang aber stets, dass sie sich sicher „nichts antun werde”. Bedingt durch die bisherige Krisenbegleitung habe sie genügend Vertrauen, sich bei einer Zunahme der Suizidgedanken bei Dieter Meier oder dem Krisendienst des betreuten Wohnens, der täglich von 9–23 Uhr zur Verfügung steht, zu melden. Sie äußert wiederholt, sehr froh zu sein, in ihrer Wohnung die psychosoziale Hilfe durch Dieter Meier zu erhalten. Auch habe sie großes Vertrauen zu Dr. Arnold Kastner. Trotz der geschilderten Probleme gelingt es ihr bislang auch täglich, in der Tagesstätte zu erscheinen und zuverlässig bei allen Terminen von Dieter Meier, die mindestens zweimal pro Woche stattfinden, anwesend zu sein. Mit ihren Freundinnen ist Andrea Müller aufgrund des erhöhten Schlafbedürfnisses zwar nicht mehr so häufig wie vor der Krise in Kontakt, aber an den Wochenenden gelingt ihr weiterhin die Pflege der für sie bedeutsamen Beziehungen.
Da die depressive Symptomatik nun bereits mehrere Wochen auf dem gleichen Niveau anhält, und trotz der Anpassung der Psychopharmakotherapie durch Dr. Arnold Kastner noch keine Besserung in Sicht ist, stellt sich für Dieter Meier die
Frage, ob er im Rahmen seiner Fürsorgepflicht für Andrea Müller die ambulante Krisenbegleitung weiterhin verantworten kann. Ist die Suizidgefährdung von Andrea Müller mittlerweile nicht zu hoch, um einen bestmöglichen Lebensschutz zu gewährleisten? Wäre nicht ein besserer Schutz im Rahmen einer klinischen Behandlung garantiert? Dieter Meier hat schon mehrere suizidale Krisen begleitet und kennt das Gefühl von Ohnmacht, wenn KlientInnen einen Suizidversuch begehen. Er stellt sich in letzter Zeit vermehrt die Frage: Was passiert, wenn sich Andrea Müller nicht an die Absprache halten kann, sich zu melden, und es zu einem Suizidversuch kommt? Würde er mit dem Gefühl leben können, dass er den Suizid möglicherweise hätte verhindern können, wenn er anders gehandelt hätte?
 

Ethischer Problemaufriss

Aus der Fallbeschreibung ergeben sich mehrere ethische Herausforderungen, die verschiedenen Ebenen zugeordnet werden können. Aus der Perspektive der Sozialprofessionellen stellt sich auf einer individualethischen Ebene bei der Begleitung von Menschen in suizidalen Krisen stets die sollensethische Pflicht, den Lebensschutz als ein zentrales Prinzip der Menschenwürde unbedingt zu achten und zugleich die Autonomie als zweites Prinzip nicht außer Acht zu lassen. Idealerweise sollten sich alle Interventionen im Rahmen der Krisenbegleitung, die von der Fachkraft zu verantworten sind, an diesen beiden Prinzipien orientieren. Der ethische Konflikt von Dieter Meier auf dieser Ebene lautet: Wie gelingt mir in der konkreten Situation mit Andrea Müller die richtige Balance zwischen bestmöglichem Lebensschutz und Achtung der Autonomie – im Fallbeispiel im Sinne der angemessenen Berücksichtigung der Entscheidung für die gewünschte ambulante Krisenbegleitung? Hingegen auf der Ebene in Bezug auf sich selbst als professionell handelnde Person stellt sich die ethische Herausforderung im Rahmen des eigenen professionellen Selbstverständnisses und der bestmöglichen Integrität der jeweils zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten: Welche in Frage kommenden Handlungen passen am besten zu meinem Berufsethos? Hierbei geht es vor allem um die strebensethische Herausforderung, eine größtmögliche Kohärenz zwischen professionellem Wollen einerseits und realisierbarem Können andererseits herzustellen. Je größer die Kluft zwischen beiden, desto gravierender sind die Folgen für das subjektive Wohlbefinden. Hier gilt es, mindestens persönliche Limits zu beachten, da sonst die professionelle Handlungsfähigkeit erheblich gefährdet wird. Als professionell Handelnder und als Repräsentant der eigenen Profession kann es wiederum auf einer sozialethischen Ebene zu Konflikten mit den institutionellen und/oder gesellschaftlich bereitgestellten oder verweigerten Ressourcen kommen. Der ethische Konflikt auf dieser Ebene lautet dann: Stellt die Institution, in der ich als Fachkraft tätig bin, die Mittel zur Verfügung, die ich benötige, um eigenständig eine professionelle Krisenbegleitung zu realisieren oder werde ich mit meinem Problem allein gelassen? Erfahre ich genügend Solidarität von meinen KollegInnen, um bestmöglich für Andrea Müller tätig sein zu können? 

Handlungsoptionen

Für Dieter Meier kommen im Augenblick mindestens folgende Handlungsmöglichkeiten in Frage:
a) Fortsetzung der bislang bewährten ambulanten Krisenbegleitung, bestehend aus einer engen Kooperation mit der Gruppenleiterin Ursula Fuchs von der Tagesstätte und mit Dr. Arnold Kastner sowie der Gespräche mit Andrea Müller über deren Suizidgedanken. Solange er begründetermaßen von einer Absprachefähigkeit ausgehen kann, Andrea Müller diese Form der Krisenbegleitung ausdrücklich wünscht und für sich als die beste Option bejaht, ändert Dieter Meier seine Handlungsstrategie nicht.
b) Veränderung der Interventionsstrategie in Richtung Organisation einer stationären Behandlung für Andrea Müller – möglichst mit deren Zustimmung ?, da er die Suizidgefährdung nicht mehr in einem ambulanten Setting verantworten will. Dieter Meier wird daher die geschilderten Suizidgedanken als deutlich gefährlichere Suizidabsichten interpretieren und die Absprachefähigkeit von Andrea Müller ihr gegenüber soweit bezweifeln, bis sie einsehen wird, dass eine klinische Behandlung die beste Lösung für sie ist. Sollte diese Vorgehensweise erfolglos sein, könnte er mit der „Androhung“ einer Kündigung des Betreuungsvertrages wegen mangelnder Mitwirkung den Druck auf sie erhöhen, um die Zustimmung zu erhalten.
c) Zusätzlich zur Option b) könnte Dieter Meier, ohne Andrea Müller darüber zu informieren, sowohl Dr. Arnold Kastner als auch Ursula Fuchs für die eigene
Sichtweise versuchen zu gewinnen, um in einer konzertierten Aktion die Einweisung in eine Psychiatrie zu veranlassen. Vor allem gegenüber Dr. Arnold Kastner könnte er deutlich machen, dass er nicht mehr bereit sei, die Verantwortung für Andrea Müller zu übernehmen und so den „Druck” auf die fachärztliche Verantwortung erhöhen.

Exkurs zur Einschätzung der individuellen Suizidgefährdung sowie zu Grundsätzen im Umgang mit Menschen in suizidalen Krisen

Es gibt bis heute kein anamnestisches Verfahren, um die Suizidgefährdung von einzelnen Menschen in einer konkreten Situation sicher und zweifelsfrei festzustellen. Bei der Beurteilung der jeweiligen Suizidgefährdung muss daher neben der Anamnese der Risikofaktoren (Risikogruppe, Risikosituation, Risikobefindlichkeit und Risikosignale) vor allem das offene, direkte, ausführliche, ernsthafte und einfühlsame Gespräch mit den Betroffenen über deren subjektives Erleben unbedingt berücksichtigt werden. Hierbei gibt es durchaus Kriterien zur Beurteilung der Gefährdungslage, die als Orientierungshilfen dienen.  Wenn man wissen will, wie ausgeprägt das Risiko ist, dass der Betroffene sich gegenwärtig etwas antun könnte, ist es bspw. hilfreich, unterschiedliche Formen von Suizidalität begrifflich zu unterscheiden und diese wiederum im Hinblick auf das Risiko eines Suizidversuches einzuordnen. Folgende vier Formen können hierbei mit einer Zunahme an Suizidgefährdung angeführt werden (sog. Suizidalitätspyramide): 1) Wunsch nach Ruhe, Pause oder Unterbrechung, 2) Todeswunsch, 3) Suizidgedanken bzw. -ideen und 4) Suizidabsicht. Besonders bedeutsam für die Beurteilung der individuellen Gefährdung ist die Einschätzung der im Gespräch enthaltenen Schilderungen der Betroffenen, ob eher von Suizidgedanken oder -absichten ausgegangen werden muss. Suizidgedanken beinhalten mehr oder weniger konkret gedachte Suizidhandlungen (z.B. Erinnerungen an vergangene Suizidversuche), jedoch ohne konkreten Handlungsdruck, wohingegen bei Suizidabsichten die Suizidideen bereits zu konkreten Planungen und Vorbereitungen geführt haben (z.B. Sammeln von Tabletten), die Distanzierungsfähigkeit gering ist und der Handlungsdruck deutlich als Drang erlebt wird. Hierbei ist zu beachten, dass je höher der Handlungsdruck empfunden wird, desto geringer die Absprachefähigkeit sein kann. Bestehen erhebliche Zweifel im Hinblick auf die Absprachefähigkeit bei bestehenden Suizidabsichten, ist angesichts der Pflicht zum Schutz des Lebens dringend zu klären, welcher Behandlungsrahmen (ambulant, tagesklinisch oder stationär) notwendig ist, um den Lebensschutz bestmöglich zu gewährleisten. Bei jeder Art von Krisenbegleitung, vor allem wenn diese ambulant erfolgt, ist von erheblicher Bedeutung, ob die Mitarbeit und Partizipation des Betroffenen bei der Krisenintervention gewonnen werden kann. Operationalisierbar ist dieser Prozess mittels des in der Medizinethik bekannten Prinzips des informierten Einverständnisses (informed consent). Wenn es gelingt, den Betroffenen verständlich und ausreichend Informationen über ihre gegenwärtige Situation inkl. der bestehenden Suizidgefährdung sowie über die zur Verfügung stehenden Krisenbegleitungsmöglichkeiten (ambulant, tagesklinisch oder stationär) inklusive der damit verbundenen Chancen und Risiken zu vermitteln, und es zugleich keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass der Entscheidungsprozess unter Bedingungen des Zwanges steht, dann kann man davon ausgehen, dass eine (schriftliche oder verbale) Zustimmung oder Ablehnung als eine freie Entscheidung betrachtet werden kann, und somit ein Höchstmaß an Mitarbeit realisiert werden konnte. Bestenfalls gelingt es, die suizidale Krise als eine gemeinsame Herausforderung aufzufassen. Wenn eine engmaschige professionelle Begleitung zur Verfügung gestellt werden kann (zeitweise auch täglicher Kontakt) und zudem weitere professionelle Hilfen (z.B. ambulanter Psychiater, Fachkraft in anderer sozialpsychiatrischer Einrichtung) in Anspruch genommen werden können, die von dem Betroffenen auch tatsächlich genutzt werden, sinkt das individuelle Gefährdungsrisiko. Existieren darüber hinaus noch lebensbejahende Faktoren im Lebensumfeld (z.B. familiärer Rückhalt, unterstützendes Eingebundensein in ein soziales Umfeld, befriedigende berufliche Situation oder religiöse Bindung), sinkt das Risiko einer Suizidhandlung noch einmal. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist eine gemeinsame verantwortungsbewusste Einschätzung der Suizidgefährdung von einzelnen Menschen in einer konkreten Situation zwar nicht zweifelsfrei, aber fachlich gut begründet möglich.

Ethische Bewertung der Interventionsoptionen

(a) Fortsetzung der ambulanten Krisenbegleitung

Dieter Meier verfügt über einen offenen und von Vertrauen geprägten Kontakt zu Andrea Müller, in dem über deren Suizidalität gesprochen werden kann. Außerdem besteht durch Dr. Arnold Kastner und Ursula Fuchs ein professionelles Hilfenetz, welches Andrea Müller zuverlässig in Anspruch nimmt. Der für sie bejahenswerte Kontakt zu ihrem Freundeskreis ist bislang noch nicht abgerissen. Solange Andrea Müller ausschließlich Suizidgedanken äußert und zugleich absprachefähig ist – sie erscheint bislang zuverlässig zu allen Terminen , ist von keiner massiven und gravierenden Suizidgefährdung auszugehen. Wenn Dieter Meier zudem für eine bestmögliche Kontakthäufigkeit – entweder durch persönliche Kontakte und/oder durch zuverlässige Kontakte anderer Personen (bspw. durch Ursula Fuchs von Montag bis Freitag in der Tagesstätte) – sorgen kann, wird dem Lebensschutz in einer weiteren Hinsicht entsprochen. Andrea Müller signalisiert, dass sie mit der bisherigen ambulanten Krisenbegleitung sehr zufrieden und einverstanden ist. Bezüglich der Entscheidungsfähigkeit von Andrea Müller könnte allerdings problematisierend eingewendet werden, dass die traumatischen Erlebnisse früherer Zwangs-behandlungen in Kombination mit der depressiven Symptomatik eine realistische Selbsteinschätzung nur schwer möglich machen und so ein stellvertretendes Entscheiden seitens der Fachkraft unumgänglich ist. Da es für eine derartige Beurteilung aber an sicheren Instrumentarien mangelt, ist hier zumindest eine gewisse Vorsicht geboten. Selbst wenn eine graduelle Beeinträchtigung des Urteilsvermögens anzunehmen ist, gilt es für Dieter Meier, ein stellvertretendes Mit-Entscheiden aus der Perspektive der Wertvorstellungen eines bejahenswerten und guten Lebens von Andrea Müller zu berücksichtigen, und nicht paternalistisch nach eigenem Gutdünken. Das Hinzuziehen von möglichst mehreren Professionellen ist hier auf jeden Fall hilfreich – vielleicht gibt es im Team weitere Vertrauenspersonen von Andrea Müller, die hier miteinbezogen werden könnten. Die Präferenz für eine ambulante Krisenbegleitung von Andrea Müller ist im Rahmen ihrer biographischen Erfahrungen (Zwangsbehandlungen in der Jugendzeit, gelungene Krisenbegleitung in der manischen Phase mit Dieter Meier) plausibel und nachvollziehbar, so dass bei einem stellvertretendem Prüfen der Willensbekundung keine schwerwiegenden Zweifel im Hinblick auf die Rationalität der Entscheidung angebracht sind.
Wenn es für Dieter Meier im Rahmen seines Berufsethos vor allem darauf ankommt, möglichst assistierend und anwaltlich  tätig zu sein, wäre die Fortsetzung der ambulanten Krisenbegleitung angesichts der geschilderten Umstände in hohem Maße kompatibel mit der eigenen praktischen Überzeugung. Verfügt er zudem über eine ethische Haltung zwischen zwei bekannten Extremen, der Ohnmachtsfalle („eigentlich kann ich sowieso nichts tun, um einen Suizid zu verhindern“) auf der einen Seite, und der Allmachtsfalle („wenn ich alles richtig mache, verhindere ich jeden Suizid“) auf der anderen Seite, ist die Fortsetzung der ambulanten Krisenbegleitung durchaus stimmig. Dieter Meier handelt sowohl in Übereinstimmung mit fachlichen Standards als auch weiß er um die unverzichtbare Ko-Produktion einer gelingenden Krisenbegleitung; er bezieht Andrea Müller in den gesamten Prozess mit ein und verteilt somit die Verantwortung auf „mehrere Schultern“. Sowohl der Lebensschutz als auch vor allem die Autonomie ist bei dieser Vorgehensweise deutlich sichtbar und kann mit dem Prinzip des informierten Einverständnisses angemessen berücksichtigt werden.
Da die Begleitung von Menschen in suizidalen Krisen vor allem in einem ambulanten Setting eine große existenzielle Herausforderung für beide Seiten darstellt, sind befähigende Rahmenbedingungen ein unverzichtbarer Baustein. So kann die oben erwähnte tägliche Krisenbereitschaft durch entsprechend geschulte Sozialprofessionelle im ambulant betreuten Wohnen ein bedeutsamer Faktor für das Sicherheitsgefühl von Dieter Meier und Andrea Müller darstellen. Wenn Dieter Meier darüber hinaus auf ein bewährtes – bestenfalls evidenzbasiertes – Kriseninterventionskonzept in der Einrichtung zurückgreifen kann und die Möglichkeit erhält, seine nachvollziehbaren Bedenken und Sorgen in kollegialer Beratung und/oder Supervision zu thematisieren, wären institutionelle Voraussetzungen vorhanden, die es ihm ermöglichen, die prinzipielle Ungewissheit professionell zu reflektieren und ihn zugleich zu einem eigenständigen und verantwortlichen Handeln zu befähigen. Sollte hingegen Dieter Meier als Einzelperson ohne fachlichen Rückhalt von KollegInnen handeln müssen, steigt das Risiko einer Überforderung durch die kontinuierliche Belastung der prinzipiell ungewissen Suizidgefährdung von Andrea Müller. 

(b) Hinwirkung auf eine freiwillige klinische Behandlung

Bei dieser Interventionsstrategie dominiert der Aspekt des größtmöglichen Lebensschutzes für Andrea Müller. Die Selbstbestimmung ist hier nur noch angesprochen in dem Vorsatz, eine Zustimmung von Andrea Müller für die stationäre Behandlung zu erhalten. Da der „natürliche“ Wille von Andrea Müller dem bislang entgegensteht, müsste Dieter Meier allerdings auf diesen Willen massiv Einfluss nehmen.
Naheliegend wäre eine Umdeutung bzw. Neubewertung der Suizidgefährdung von Andrea Müller. Gestützt auf eine Expertise durch sein Team mit dem Zusatz, dass bei einer Weigerung seitens Andrea Müller aufgrund mangelnder Mitwirkung eine Kündigung des Betreuungsvertrages „drohe“, könnten Informationen vermittelt werden, die eine Aussicht auf eine Modifikation der bisherigen Entscheidung in Richtung Zustimmung in eine stationäre Behandlung hätten. Diese Vorgehensweise ginge allerdings sehr stark auf Kosten der Autonomie von Andrea Müller, da die Umdeutung bzw. Neudeutung der Suizidgefährdung primär auf der Basis der Gewichtung auf „größtmöglichen Lebensschutz“ seitens Dieter Meiers geschehen würde und weniger auf einer objektivierbaren Veränderung der Sachlage. Dieter Meier müsste mit Bezug auf seine Autorität als Experte massiven Einfluss auf die bisherige  Selbsteinschätzung von Andrea Müller ausüben. Da hierbei Informationen bewusst interessengeleitet vorenthalten bzw. in manipulativer Absicht umgedeutet werden müssten, liegt hier eindeutig ein paternalistisches Handeln vor. Zudem ist festzuhalten, dass dadurch bereits die Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung gegeben sind, so dass von einer Achtung der Autonomie nicht mehr sinnvollerweise gesprochen werden kann.
Dieter Meier könnte dieses Dilemma im Rahmen seines Berufsethos nur dann lösen, wenn er ein Sympathisant eines starken Paternalismus und der festen Überzeugung wäre, trotz der rechtlichen Bedenken mit dieser Manipulation dennoch das Beste im Sinne einer Übelvermeidung für Andrea Müller zu tun. Die für ihn klar bestehende Übelvermeidung stünde hier über dem Selbstbestimmungsrecht, da Andrea Müller hierfür nach Einschätzung von Dieter Meier die Einsicht fehlt. Dieter Meier könnte dem Grundsatz folgen, dass seine Vorgehensweise vielleicht nicht ganz rechtens, aber doch (aus seiner Sicht) richtig ist – „man dürfe nicht päpstlicher sein als der Papst!“. Diese Vorgehensweise wäre zudem in hohem Maße stimmig für Dieter Meier, wenn für ihn Sicherheit ein extrem hohes Gut wäre und er zugleich wenig Zutrauen in die eigenen professionellen Kompetenzen hätte. Diese Überzeugung ist möglicherweise erst entstanden durch eine vergangene ambulante Krisenbegleitung, bei dem ein Klient einen Suizidversuch unternommen hatte oder sich suizidierte. Verstärkt durch einen Mangel an institutioneller Unterstützung könnte diese Option daher für Dieter Meier als einzige Lösung seiner fachlichen und ethischen Probleme angesehen werden.

Exkurs zu Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen

„Zwang liegt nicht nur bei Anwendung physischer Gewalt (z.B. Festhalten oder Fixieren) vor, sondern in jedem Fall, im dem gegen den Willen des Patienten gehandelt wird, z.B. durch Täuschung oder Drohung.” (Zentrale Ethikkommission 2013, S. A1335)  Angesichts des Rechts auf Selbstbestimmung von Personen gilt es stets den Grundsatz zu beachten, dass bei bestehender Einwilligungsfähigkeit von KlientInnen diese selbst über ihre Begleitung bzw. Behandlung entscheiden. Für die Einwilligungs- bzw. Entscheidungsfähigkeit genügt es, wenn die KlientInnen Wesen, Bedeutung und Tragweite von Maßnahmen – auch von sozialprofessionellen Kriseninterventionen – im Groben erfassen, das Pro und Contra abwägen und ihren Willensentscheid hiernach ausrichten können. Wird demnach gezielt und bewusst die Informiertheit von Personen in eine bestimmte Richtung gelenkt, ohne die Gründe hierfür offen zu legen, handelt es sich aufgrund der Täuschung um eine Form von Zwangsbehandlung – vor allem, wenn dadurch die Zustimmung für eine Maßnahme erreicht werden soll, die bislang gegen den „natürlichen“ Willen des Klienten steht. Der Entstehungskontext, in dem es zu einer Täuschung oder Drohung kommen kann, beruht dabei entweder auf einer personalen Verantwortung durch eine bestimmte Fachkraft oder bzw. und zugleich auf einer institutionellen Verantwortung für strukturelle Rahmenbedingungen, die derartige Situationen teilweise erst ermöglichen (Stichwort „Mangel an institutionellen Ressourcen“). Da sozialpsychiatrische Einrichtungen für AdressatInnen verantwortlich sind, die als eine bekannte Risikogruppe für eine Suizidgefährdung gelten, haben sie eine besondere sozialethische Pflicht, für solche institutionellen Rahmenbedingungen zu sorgen, die einen bestmöglichen Lebensschutz bei gleichzeitiger Achtung der Autonomie gewährleisten. Je nachdem, wie die finanzielle Ausstattung der jeweiligen Einrichtungen durch die zuständigen Kostenträger beschaffen ist, könnte auch eine gesellschaftliche Verantwortung berührt sein, genügend materielle und vor allem personale Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Hierzu zählen ausdrücklich auch wirksame Maßnahmen zur Befähigung der sozialprofessionellen MitarbeiterInnen durch das Vorhandensein eines bewährtes Kriseninterventionskonzepts sowie die Einarbeitung in ein solches, entsprechende Fortbildungen und Angebote zur Supervision, aber auch flexible und ausreichende Zeitressourcen für eine engmaschige Krisenbegleitung. Allein ein Bachelorstudium Soziale Arbeit stellt sicher kein hinreichendes Qualitätsmerkmal dafür dar, dass die Sozialprofessionellen über ausreichende Kompetenzen in dieser Hinsicht verfügen.

(c) Hinwirkung auf eine freiwillige klinische Behandlung inkl. Beeinflussung der professionellen Vertrauenspersonen im Hilfesystem

Diese Handlungsoption ist als eine Erweiterung der zweiten anzusehen und folgt in ihrer Logik ausschließlich strategischen Überlegungen – Kriterien von Wirksamkeit und Effizienz sind hierbei leitend. Es kommen allerdings weitere ethische Probleme hinzu, die nun kurz problematisiert werden. Der Sachverhalt einer Zwangsbehandlung gegen den „natürlichen“ Willen von Andrea Müller würde durch die gezielte Beeinflussung von bisherigen professionellen Vertrauenspersonen noch verstärkt – vor allem, wenn auf der Basis von „gefälschten” Informationen auf Dr. Arnold Kastner Druck ausgeübt würde, so dass dieser nun allein die Verantwortung für die ambulante Krisenbegleitung von Andrea Müller übernehmen solle. Würden Dr. Arnold Kastner und Ursula Fuchs ausschließlich als Mittel für Dieter Meiers Interessen angesehen, die bei erfolgreicher Beeinflussung am Projekt „freiwillige Einweisung in eine klinische Behandlung“ gewonnen werden sollten, würde billigend in Kauf genommen werden, dass nicht nur ein Verstoß gegen die Selbstbestimmungsrechte von Andrea Müller vorläge, sondern auch das in der Menschenwürde aufgehobene Instrumentalisierungsverbot in Bezug auf Dr. Arnold Kastner und Ursula Fuchs missachtet würde. Die Kontaktaufnahme mit den beiden diente in diesem Sinne nicht der bestmöglichen Verfügbarkeit von Wissen über Andrea Müller und darauf abgestimmt der bestmöglichen Begleitung, sondern allein der wirksamsten und effizientesten Mittelmobilisierung für die Realisierung des Zwecks der „freiwilligen” stationären Behandlung von Andrea Müller. Die Kooperation zwischen verschiedenen Fachkräften unterschiedlicher Institutionen diente in diesem Kontext nicht den berechtigten Autonomie- und Lebensschutzansprüchen von Andrea Müller, sondern allein den persönlichen Sicherheitsinteressen von Dieter Meier.
Der „ethische Preis” für die bestmögliche Beachtung des Lebensschutzes für Andrea Müller wäre demzufolge extrem hoch. Die erreichte freiwillige Zustimmung von Andrea Müller in eine klinische Behandlung wäre eine Mogelpackung, die, auf List und Tücke gebaut, den eigentlichen Zwang verschleiert. Je nachdem, inwieweit persönliche und/oder strukturelle Defizite dieser Vorgehensweise zugrunde liegen, wären neben individualethischen auch sozialethische Werte und Normen für die Beurteilung der Verantwortung für die Folgen dieser Handlungsweise relevant. Je weniger institutionelle Ressourcen den Sozialprofessionellen für die Verwirklichung einer Krisenbegleitung für Menschen in suizidalen Krisen zur Verfügung gestellt werden, desto höher ist die sozialethische Mitverantwortung von Institutionen bei der Missachtung berechtigter Selbstbestimmungsrechte von KlientInnen einzustufen.

Handlungsempfehlung

Angesichts eines in der Profession der Sozialen Arbeit deutlich präferierten advokatorisch-partizipatorischen Berufsethos  kommt meines Erachtens nur die erste Handlungsoption für Dieter Meier in Frage – vorausgesetzt, er will ein „guter“ Repräsentant seiner Profession sein. Fokussiert auf die Achtung der Menschenwürde von Andrea Müller wird sowohl dem Lebensschutz als auch dem Recht auf Selbstbestimmung am besten dadurch entsprochen, die bislang erfolgreiche und von Andrea Müller ausdrücklich bejahte ambulante Krisenbegleitung durch Dieter Meier in enger Kooperation mit Dr. Arnold Kastner und Ursula Fuchs von der Tagesstätte fortzusetzen. Eine nicht unerhebliche Suizidgefährdung liegt zwar zweifelsfrei vor, Andrea Müller erscheint aber zum einen ausreichend entscheidungsfähig und zum anderen auch soweit absprachefähig zu sein, um den ambulanten Behandlungsrahmen verantworten zu können. Der Willensentscheid von Andrea Müller ist von außen betrachtet aufgrund der von ihr gemachten bisherigen Erfahrungen plausibel und stellt keine unvertretbare Selbstgefährdung dar, die eine Garantenpflicht oder dergleichen gegen ihren Willen rechtfertigen könnte. Ein paternalistisches Handeln durch bewusste Manipulation von Entscheidungsgrundlagen ist in dieser Situation berufsethisch nicht zu rechtfertigen. Die Fortsetzung der bislang erfolgreichen ambulanten Krisenbegleitung bietet darüber hinaus sogar die Chance für den Aufbau eines nachhaltigen Notfallplanes für zukünftige Krisen. In dieser Hinsicht könnte die Eigenständigkeit von Andrea Müller in einer weiteren Hinsicht gestärkt werden, was in hohem Maße berufsethischen Ansprüchen in der Sozialen Arbeit entspräche. Durch den täglichen Krisendienst im ambulant betreuten Wohnen verfügt Dieter Meier zusätzlich über eine institutionelle Ressource, auf die er und Andrea Müller zurückgreifen können. Das Team und die sozialpsychiatrische Einrichtung hat die sozialethische Pflicht, Dieter Meier solidarisch bei der Umsetzung der Krisenbegleitung beizustehen und die bestmögliche fachliche Unterstützung zu gewährleisten, damit er auf einem angemessenen professionellen Niveau und im Einklang mit seinen berufsethischen Überzeugungen eigenständig die von Andrea Müller gewünschte ambulante Krisenbegleitung realisieren kann. Ohne diese kollegiale Unterstützung in Kombination mit einem professionellen Kriseninterventionskonzept erscheint mir die zu tragende Belastung aufgrund der Dauer der depressiven Phase in Kombination mit dem nach wie vor nicht abzusehenden Ende der Krise allerdings nur sehr schwer realisierbar. Hier ist die sozialethische Verantwortung des Trägers des ambulant betreuten Wohnens und ggf. auch des Kostenträgers zu sehen. Bei der Feststellung gravierender Mängel in diesem Bereich wären diese mit Bezug auf sozialethische Prinzipien ggf. auch einzufordern, um die für Dieter Meier und Andrea Müller notwendigen Ressourcen auch tatsächlich zur Verfügung zu haben.